Eine wegweisende Befragung zur Frauengesundheit in Tirol hat erschreckende Zahlen zu Gewalterfahrungen und bedeutende Versorgungslücken aufgezeigt. Simone Davidsen, Soziologin am Tirol Institut für Qualität im Gesundheitswesen, war maßgeblich an der Studie beteiligt, die nun die Grundlage für die Tiroler Frauengesundheitsstrategie bildet.
Die alarmierenden Fakten
Die im November 2024 vorgelegte Studie brachte Ergebnisse ans Licht, die zum Nachdenken zwingen: Jede dritte Tirolerin (28,4%) gibt an, psychische oder physische Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Noch besorgniserregender: Nur 17,1 Prozent der betroffenen Frauen fühlten sich in diesem Zusammenhang gut betreut.
„Die Zahlen sind schockierend. Ich denke, das ist ein unerwartetes Ergebnis gewesen“, sagt Simone Davidsen, die als Mitglied des Forschungskonsortiums an der Erarbeitung und Auswertung der zielgruppenspezifischen Befragung beteiligt war.
Umfassende Datenbasis für gezielte Maßnahmen
Im Auftrag des Landes Tirol erarbeitete ein Forschungskonsortium aus Expert:innen der fh gesundheit, des MCI und der UMIT TIROL erstmals eine umfassende Datenbasis zur Frauengesundheit in Tirol. Die Befragung wurde bewusst zielgruppenspezifisch angelegt und bezog Frauen aus unterschiedlichen Lebenssituationen und Altersgruppen ein – von jugendlichen Frauen über berufstätige Frauen bis hin zu Frauen nach der Menopause.
Zentrale Erkenntnisse der Studie:
Gewaltschutz und -nachsorge:
- Nutzung und Ausbau von Unterstützungsangeboten erforderlich
- Schulungsbedarf für medizinisches Personal im Umgang mit Gewaltopfern
- Notwendigkeit niederschwelliger, regionaler Anlaufstellen
Psychische Gesundheit:
- Über alle Altersgruppen hinweg ein dominierendes Thema
- Mehrfachbelastungen wirken sich direkt auf die Gesundheit aus
- Lange Wartezeiten für psychologische Hilfe
Informationslücken:
- Besonders bei Themen wie Menopause, Endometriose und psychischer Gesundheit
- Viele Angebote sind nicht bekannt
- Unsicherheit über verlässliche Informationsquellen
Stadt-Land-Gefälle:
- Frauen am Land haben längere Wege zu Gynäkolog:innen
- Schwierigkeiten bei der Terminvergabe
- Eingeschränktere Versorgungsdichte
Die Tiroler Frauengesundheitsstrategie
Auf Basis der Studienergebnisse wurde im März 2025 die Tiroler Frauengesundheitsstrategie beschlossen. Sie umfasst 34 konkrete Handlungsfelder mit den Schwerpunkten:
- Prävention
- Sexualpädagogik
- Psychische Gesundheit
- Gewaltschutz
„Die Qualität im Gesundheitswesen besteht auch sehr viel daraus, dass man zuhören muss, dass man die Personen – in dem Fall die Frauen – ernst nehmen muss und sensibel kommunizieren sollte.“
Simone Davidsen.
Gendermedizin: Ein noch junges Forschungsfeld
Die Studie unterstreicht die Bedeutung geschlechtssensibler Medizin. Dass Frauen anders krank werden, anders krank sind und anders behandelt werden müssen als Männer, rückt erst seit Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt in den Fokus der medizinischen Forschung.
Tiroler Frauenlandesrätin Eva Pawlata hält dazu fest: „Heute wissen wir, dass eine geschlechtssensible Betrachtung für eine ganzheitliche und gerechte Gesundheitsversorgung unerlässlich ist.“
Den Frauen eine Stimme geben
„Mit der Befragung etwas bewirken zu können und die Grundlage dafür zu schaffen, dass etwas bewegt werden sollte – das hat uns alle motiviert“, erklärt Simone Davidsen den Antrieb des Forschungsteams. Ein zentrales Ergebnis über alle Altersgruppen hinweg: Frauen wollen gut informiert sein und selbstbestimmt Entscheidungen treffen können.
Ob die Maßnahmen wirken, wird sich zeigen müssen. „Es wäre unglaublich spannend und sehr wichtig, dass man sich das immer wieder anschaut, um zu sehen, ob die Stimmen der Frauen wirklich zu Veränderungen geführt haben“, so die Soziologin.
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🎧 medica-Podcast mit Simone Davidsen
Im ausführlichen Podcast-Gespräch erzählt Simone Davidsen über ihre Arbeit, die Studienergebnisse und die Bedeutung von Qualität im Gesundheitswesen.
🔗 Frauengesundheitsstrategie des Landes Tirol
Die Frauengesundheitsstrategie des Landes und den Bericht der Bericht der Zielgruppenspezifische Befragung zur Frauengesundheit finden Sie unter diesem LINK.
Über Simone Davidsen: Simone Davidsen ist Soziologin am Tirol Institut für Qualität im Gesundheitswesen – TIQG an der fh gesundheit. Sie war maßgeblich an der Erarbeitung und Auswertung der Studie zur Tiroler Frauengesundheit beteiligt.
Quelle: medica Tirol, Ausgabe 02/2025
Autorin des Originalartikels: Alexandra Keller
Fotos: © Julia Türtscher, Blickfang Photographie