Ein neues Medizinprodukt könnte Berufstätigen helfen, ihre Rückenschmerzen durch Selbstmassage zu bekämpfen. Es wurde in einem Forschungsprojekt „smartifiziert“ – das soll mehr Spaß und Motivation bringen.
VON ERIKA PICHLER
Sind Sie eher eine Schildkröte, ein Elefant oder eine Schlange, wenn es um die Fähigkeit geht, Ihren Rücken und Nacken zu neigen oder zu drehen? Und wären Sie vielleicht gern eine Eule? Der Vogel mit dem vermutlich flexibelsten Hals versinnbildlicht das höchste Level der Beweglichkeit, das der „Tension Terminator“ anzeigt. Dabei handelt es sich um ein Gerät zur Selbstbehandlung von Verspannungen im Rückenbereich. Die unterhaltsame Videovariante des Therapiegeräts existiert allerdings bisher nur als Forschungsprototyp.
Schon länger in Betrieben im Einsatz hingegen ist das Gerät in seiner bisherigen Form als zertifiziertes Medizinprodukt. Es wurde von dem Tiroler Physiotherapeuten Martin Feuerstein erfunden, ausgehend von dessen langjährigem Umgang mit Menschen, die den Arbeitstag fast unbewegt hinter Bildschirmen verbringen oder die in der Fertigung stundenlang die gleiche Position einnehmen. Solche Fehl- und Zwangshaltungen lassen die Faszien – das Geflecht stützender Bindegewebsstrukturen im Körper – verkleben. Die Folge sind Verspannungen im Nacken, Rücken und in den Schultern, oft begleitet von Kopfschmerzen.
Massage-Tool für Kaffeeküche
Feuersteins ergonomisches Credo, Arbeitsumgebungen an die Bedürfnisse der Menschen anzupassen, ließ den Physiotherapeuten ein Massage-Tool entwickeln, das aus einem Hebel und aus Rollen besteht. Es ermöglicht berufstätigen Personen, direkt am Arbeitsplatz ihre Beschwerden zwischendurch und ohne großen Aufwand durch Selbstmassage zu behandeln, egal ob in der Kaffeeküche, in einer Lagerhalle oder am Gang.
Die Erfindung wurde vom Tirol Institut für Qualität im Gesundheitswesen (TIQG) der Fachhochschule Gesundheit evaluiert. Eine Anwendungsbeobachtung des Instituts in acht Tiroler Unternehmen zeigte eine hohe Zufriedenheit der Nutzer und deutliche Verbesserungen im gesamten Rückenbereich.
Sehr gute Resultate ergab auch eine zehnmonatige Anwendungsbeobachtung im AKH Wien. Dort wurde das Gerät in sechs Abteilungen aufgestellt – zum Beispiel in den OP- und Laborbereichen – und von 145 Angehörigen des Spitalpersonals genutzt. Die von Richard Crevenna (Leiter der Physikalischen Medizin der Med-Uni Wien) und Timothy Hasenöhrl erstellte Begleitstudie kam zum Schluss, dass die Selbstbehandlung in 85 Prozent der Fälle zu subjektiv wahrgenommenen deutlichen Verbesserungen und oft auch zum Verschwinden von Kopfschmerzen führte.
Nach der positiven Evaluation habe man sich gefragt, „wie es gelingen kann, dieses gesundheitsfördernde Verhalten am Arbeitsplatz noch weiter zu fördern“, sagt Marc Crepaz vom TIQG. So habe man sich zum Ziel gesetzt, das Medizinprodukt im Rahmen eines FFG-Forschungsprojekts zu gamifizieren, also in der Art eines Videospiels zu gestalten – zum Beispiel mit Punkten für die Nutzungshäufigkeit, Vorher-Nachher-Darstellungen und Gratulationen, aber auch mit Wissen über Faszien und Tipps für den Alltag.
Kontrolle durch Stereo-Kamera
Für die technische Umsetzung waren Andrea Corradini und Matthias Janetschek zuständig, beide Professoren am Innsbrucker MCI. Die Lösung, die sie zusammen mit Studierenden des Studiengangs Digital Business & Software Engineering entwickelten, setzte vor allem auf die Installation einer Stereo-Kamera, die von oben Sicht auf die jeweilige Körperpartie und die Art der Ausführung hat. „Wir erfassen so den Raum und sehen dann durch Machine Learning, ob die Leute das Gerät richtig verwenden und wie oft sie es verwenden“, erklärt Janetschek.
Basis des Verfahrens sei gewesen, als Software-Ingenieure die medizinischen Abläufe genau zu verstehen und sie im System abzubilden, sagt Corradini. Das System analysiere eine dichte Abfolge von Bildern und gebe dem Anwender eine Rückmeldung. „Wenn die Kamera zum Beispiel sieht, dass eine Bewegung zu schnell ist, heißt das, dass man sich nicht gut bewegt. Dann sagt man dem Benutzer: Verlangsame bitte! Das Ziel der Gamification ist jedenfalls, das Nutzerverhalten zu beeinflussen.“
Das Projekt wurde abgeschlossen, aktuell wird noch an einer Smartphone-App gearbeitet.
IN ZAHLEN
- 1,76 Millionen Menschen sind in Österreich laut der Studie „Global Burden of Disease“ von Rückenschmerzen betroffen. Sie sind somit hierzulande die häufigste Ursache von Krankheitslast.
- 63 Prozent aller Mitarbeiter:innen in Tiroler Betrieben leiden täglich oder mehrmals wöchentlich unter Verspannungsschmerzen.
- 32 Prozent sind in ihrer Beweglichkeit beeinträchtigt, 15 Prozent leiden täglich bis mehrmals pro Woche an Kopfschmerzen und weitere 18 Prozent an Schlafstörungen.
(Quelle: FH Gesundheit, Tirol)
